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Gedenken: Heute vor 75 Jahren wurde Zerbst zerstört - Zeitzeugen erinnern sich


Bürgermeister Andreas Dittmann und Stadtratsvorsitzender Wilfried Butro legen im Gedebken an die Opfer auf dem Heidetorfriedhof einen Kranz nieder. Fotos (2): Thomas Kirchner

Zerbst l Der 16. April vor 75 Jahren besiegelt das Schicksal der einstigen Residenzstadt Zerbst – auch Rothenburg des Nordes genannt. Mehr als 500 Menschen sterben, 80 Prozent der Innenstadt werden zerstört, als die US-Luftflotte 116 Tonnen Spreng- und 90 Tonnen Brandbomben über Zerbst abwirft. Es ist die größte Katastrophe, die Zerbst in seiner tausendjährigen Geschichte erlebt hat.

Traditionell laden die Kirchengemeinden und die Stadt Zerbst/Anhalt am 16. April dazu ein, gemeinsam an die Zerstörung unserer Stadt am 16. April 1945 zu erinnern und um der vielen Opfer zu gedenken, die in jenen Tagen zu beklagen waren. In diesem Jahr liegt dieses furchtbare Ereignis 75 Jahre zurück. "Ein dreiviertel Jahrhundert wäre Anlass gewesen, unser gemeinsames Gedenken in einem ganz besonderen Rahmen einzubetten. Lange schon liefen dafür die Vorbereitungen. Mit dem Konzert des St. Edmundsbury Cathedral Choir, einem Kinderchor aus Bury St Edmunds, einer Stadt der Grafschaft Suffolk im Osten Englands, wäre es außerdem ein in vieler Hinsicht außergewöhnliches Konzert geworden. Gerade weil in der Chronik unserer Stadt über den 16. April 1945 immer wieder von anglo-amerikanischen Bombern die Rede ist, hätte der Auftritt dieses Kinderchores viel darüber ausgedrückt, was seit dem in Europa, in Deutschland und zwischen Deutschland und Großbritannien geschehen ist" betonte Bürgermeister Andreas Dittmann (SPD) in seiner kurzen Gedenkrede. Doch all könne nun nicht stattfinden.

Dittmann: "Es bleibt das Niederlegen eines Kranzes auf dem Ehrenfriedhof am Heidetor, begleitet von einem stillen Innehalten, auch wird es sicher einzelne Besucher auf dem Friedhof geben, die mit einiger Distanz diesem Moment beiwohnen, mehr nicht. Mehr nicht? Doch, viel mehr. Gerade das Außergewöhnliche dieses Moments gibt uns die Möglichkeit, darüber in ganz anderer Weise als in all den Jahren zuvor, darüber nachzudenken, was am 16. April 1945 geschah und wie dieses furchtbare Ereignis die Stadt und die Menschen verändert haben muss. Es waren wirklich existenzielle Fragen, die vor 75 Jahren im Raum standen."

"Wir schreiben das Jahr 2020 und alles ist anders. Noch in der Weihnachtszeit nahmen wir Meldungen über ein neuartiges Virus im fernen China als etwas Fernes wahr, etwas, das uns nicht betrifft. Doch die Welt ist kleiner geworden. Mit Schiff, Flugzeug oder Bahn sind wir eng miteinander vernetzt, nicht digital, sondern ganz klassisch mit Handschlag und persönlicher Begegnung. Und plötzlich befinden wir uns im Ausnahmezustand, nicht etwa durch einen Krieg, sondern durch eine Virusausbreitung, die uns scheinbar unvorbereitet traf, weil wir uns in falscher Sicherheit wähnten", so Dittmann. Es habe mit dem Verzicht auf den Handschlag angefangen, ging über die Schließung von Schulen und Kindertagesstätten bis hin zum öffentlichen Kontaktverbot, faktisch einem Versammlungsverbot von mehr als zwei Personen und mündet mancherorts in einer Ausgangssperre.

"Und nun? Die Generation, die noch vor wenigen Wochen nicht nachvollziehen konnte, unter welcher Last, unter welchem Traumata die Menschen nach dem 16. April 1945 in unserer Stadt standen, erleben nun, was es bedeutet, plötzlich in der Bewegungsfreiheit eingeschränkt zu werden. Plötzlich werden Vorräte angelegt, werden Mehl, Salz, Nudeln, Konserven, Katzenfutter und Toilettenpapier knapp. Wir erleben plötzlich, was es heißt, nicht auf volle Regale zurück greifen zu können, sondern nehmen, was gerade zu bekommen ist. Das nicht einmal, weil es nicht mehr produziert würde. Die Fabriken wurden nicht durch Bomben zerstört. Nein, wir verschärfen eine Situation zur Krise, weil wir nicht glauben, dass es morgen noch genug gibt und kaufen mehr, als wir eigentlich brauchen", macht Dittmann nachdenklich.

Krisen würden das Beste und das Schlimmste offenbaren, auch das könne man gerade erleben. "Während mitten unter uns Menschen darüber abhetzen, dass es der Bundeskanzlerin nur recht geschieht, möglicherweise mit Corvid-19 infiziert zu werden und die wildesten Verschwörungstheorien kursieren und zusätzlich Angst und Hass vor und auf Flüchtlinge geschürt werden, melden sich anderseits Menschen und bieten ihre Hilfe denen an, die nicht mehr einkaufen können, sind für Menschen da, die auf Grund ihrer persönlichen und gesundheitlichen Verfassung zu Hause bleiben müssen. Die einen nennen es Nächstenliebe, andere nennen es Solidarität. Das was wir gerade erleben, gibt uns darum die Möglichkeit, anders auf den 16. April 1945 zu schauen. Auch wenn wir noch gefühlte Lichtjahre vom Leid der Menschen jener Tage entfern sind, bringt unser momentaner eingeschränkter Alltag viel schon an den Rand des Verkraftbaren. Um wie viel schlimmer muss es für die Menschen in Zerbst nach dem 16. April 1945 gewesen sein? Wie viel schlimmer ist es für die Menschen in Syrien? Wie lebt es sich unter Dauerraketenbeschuss in Israel", betont Dittmann.

Dittmann: "Wenn am 16. April 2020 um 10.20 Uhr die Glocken der Zerbster Kirchen läuten, lassen Sie uns alle gemeinsam inne halten. Bleiben wir doch einfach mal für den Moment stehen und unsere Gedanken zu den Menschen wandern, die uns wichtig sind und für die wir wichtig sind. Es muss kein einsames Gedenken sein, ganz im Gegenteil, wir haben es in der Hand, es gerade in diesem Jahr zu einem besonderen Moment in unserem Leben werden zu lassen. Bleiben Sie Mensch und bleiben Sie gesund."

Erinnerungen: Die grässliche Fratze des Krieges Zeitzeugen berichten, wie sie die Bombardierung von Zerbst vor 75 Jahren erlebt haben.

Von Helmut Hehne und Thomas Kirchner

13. April 1945, amerikanische Truppen hatten bei Barby über die Elbe gesetzt. Das nationalsozialistische Deutschland war so gut wie besiegt. Trotzdem lehnte der deutsche Stadtkommandant ein Ultimatum der Amerikaner ab, die Stadt Zerbst kampflos zu übergeben. Auch in der Stadt selbst haben Mutige versucht, die Verantwortlichen zur Aufgabe zu bewegen – ohne Erfolg. So nahm das Unglück seinen Lauf.

Die amerikanischen Piloten erhielten am frühen Morgen des 16. April den Befehl, Zerbst zu bombardieren. Der Angriff begann kurz nach zehn Uhr in mehreren Wellen. Dabei wurde in wenigen Minuten nahezu die gesamte Innenstadt mit ihren architektonischen und kulturellen Schätzen in Schutt und Asche gelegt. Zwischen 500 und 600 Menschen kamen in Häusern, Luftschutzkellern oder durch Schüsse von Artillerie und Tieffliegern ums Leben. Mehr als 1400 Häuser wurden in Trümmer gelegt.

Blick auf die zerstörte Kirche St. Bartholomäi. Foto: Sammlung Helmut Hehne

Innerhalb der 4,2 Kilometer langen und fast vollständig erhaltenen Stadtmauer blieb kaum ein Stein der unzähligen Fachwerk- und einigen repräsentativen Bauten, wie dem Rathaus, auf dem anderen. Die riesigen Wunden, die das Bombardement gerissen hat, bluten zum Teil heute noch. Die einst größte Hallenkirche Anhalts – St. Nicolai auf dem Markt – oder das ehemalige Residenzschloss sind riesige Mahnmale und erinnern an die Schrecken und den Größenwahn des Naziregimes. Nach dem Krieg fielen zum Teil noch erhaltene historische Bauten dem DDR-Wohnugsbauprogramm zum Opfer. Das zusammenhängende historische Stadtbild wurde so unwiederbringlich zerstört. Ein Brief an die Söhne

Luise Orlicek hat den Tag des Grauens miterlebt, in einem Keller irgendwo in der Innenstadt. Sie hat ihre Erinnerungen für ihre Söhne aufgeschrieben. Sie waren zum Zeitpunkt des Angriffes ein und zwei Jahre alt.

Sie schreibt: „Ich bin allein gewesen, da euer Vater Soldat an der Ostfront war. Mit einem Lkw, beladen mit Panzer-Engpass-Teilen, war er Anfang März auf der Rückfahrt nach Ungarn ein paar Stunden hier. Seiner Meinung nach würde hier bei uns in Zerbst nichts passieren. Er war kaum wieder fort, wurde Zerbst zur Festung erklärt und an allen Ein- und Ausfahrtsstraßen wurden Panzersperren errichtet, beispielsweise mit quer gelegten Baumstämmen.

Am 15. April wurde die Bevölkerung aufgefordert, endgültig die Stadt zu verlassen. Doch wohin? Tagelang hatten wir – mit uns alle übrigen Hausbewohner, wie die Familien Drews, Gerstemann, Frässdorf, Lehmann, Jäckel, Zehle und zwei Schüler der Bauschule – unter schwierigsten Bedingungen im Keller gehaust. Da wir aber nicht wussten, wo wir unterkommen könnten, waren wir uns einig zu bleiben. In den Morgenstunden des 16. April bin ich, trotz Tieffliegerbeschusses, zur Bäckerstraße gegangen, um freigegebene Lebensmittel zu holen. Ich begegnete einer Gruppe Frauen, die zur Panzersperre in der Breiten Straße unterwegs waren. Sie wollten das dort stationierte Wachkommando dazu bewegen, die Sperre zu öffnen. Auch ich wäre mitgegangen, wollte euch Zwei aber nicht so lange mit eurer Oma allein lassen. Die Frauen kamen allerdings schon nach kurzer Zeit zurück. Man hatte ihnen gedroht, sie zu erschießen.

Die Haselopstraße mit Blick in Richtung Heide. Foto: Sammlung Helmut Hehne

Gegen 10 Uhr war ich endlich wieder bei euch. Nur kurze Zeit später hörten wir den dröhnenden Anflug der Bomber-Welle und nur wenige Sekunden später begann das unvergessliche Inferno. Detonierende Bomben, nicht enden wollendes Krachen, Bersten, Beben, unzählige Erschütterungen. Wir saßen buchstäblich mit dem Rücken an der Wand, euch Kinder eng umschlungen. Entsetzliche Angst und Zittern überfiel uns, und ihr hattet euch fest an uns geklammert. Und es krachte und krachte und krachte und krachte und krachte … Und es bebte und bebte und bebte und bebte und bebte, die Erde, die Mauern, alles. Außer dem Getöse der fallenden und detonierenden Bomben war weit und breit nicht ein einziger Laut zu hören, kein Wort – Totenstille.

Plötzlich ein Einschlag in unmittelbarer Nähe. Die offenen Kellerlöcher verdunkelten sich durch Rauch. Jeder glaubte, über uns sei alles zusammengebrochen. Es drang Rauch in den Keller. Einer der Bauschüler sprang plötzlich auf und rannte die Treppe hinauf, um nachzusehen. Als er zurück kam stockte sein Atem. ,Die ganze Stadt ist ein einziges Flammenmeer‘, sagte er mit erstarrtem Blick.

Wir versuchten, uns durch Bombenkrater, riesige Schuttberge und dichten schwarzen Rauch einen Weg zum Schloss zu bahnen. Doch auch dort konnten wir nicht lange bleiben, da auch das Schloss begann zu brennen. Schließlich mussten wir die Stadt verlassen und wurden nach Grimme gebracht. Erst nach Tagen ließ man uns wieder in die Stadt. Es waren grauenhafte Bilder, die sich unseren Augen da boten. Wir bekamen eine Notunterkunft zugewiesen.“ Straße der Trauer

Die Brauerei Pfannenberg hatte einen großen Gewölbekeller, wo die Zerbster bei Luftangriffen Schutz suchten. „Auch wir wollten bei einem Angriff in den Keller“, berichtete Lisa Winetzka vor einiger Zeit beim Heimatfotorätsel, „wurden jedoch abgewiesen. Der Keller war voll. Kurze Zeit später mussten wir mit ansehen, wie alle, die im Keller Schutz gesucht hatten, tot geborgen wurden.“ Es war alles eingestürzt, und die Menschen seien wohl erstickt. Auch gegenüber in der Gastwirtschaft „Erbprinzen“, wo ein Lazarett eingerichtet war, erging es den Menschen ähnlich. „Man fand die Soldaten mit Krankenschwester Traudchen Lehmann untergehakt. Alle waren tot“, so Lisa Winetzka.

Auch Ruth Tschersich erzählte beim gleichen Rätsel von Schutzsuchenden, eingestürzten Kellern und unzähligen Menschen, die umgekommen sind. „Wir mussten als Kinder – ich war zwölf Jahre alt – mit ansehen, wie die vielen Toten geborgen worden“, erinnert auch sie sich an die schrecklichen Ereignisse im April 1945. „Straße der Trauer“, habe man die Breite Straße damals genannt. Kein Stein habe mehr auf dem anderen gestanden. Alleine in der Breiten Straße sollen mindestens 300 Menschen umgekommen sein.

Die Breite Straße. Foto: Sammlung Helmut Hehne

„Viele Zerbster die während der Bergung der Toten vorbeigekommen waren, sind stehen geblieben, haben inne gehalten und der Toten gedacht“, erinnert sie sich. Und immer wieder muss sie ihre Erzählungen kurz unterbrechen. Ihre Stimme zittert. „Wissen Sie, ich musste überlegen, ob ich anrufe und Ihnen das alles berichten soll, aber irgendwann ist ja keiner mehr da, der die Geschichten erzählen kann“, sagt Ruth Tschersich tief bewegt. Das alles macht sie auch heute noch sehr traurig.

Man mag es kaum glauben, doch es hätte noch schlimmer kommen können. Zwei mutige Männer – Dr. Hermann Wille und Heinrich Gelzenleuchter – verhandelten am 28. April 1945 über Stunden mit den Amerikanern und verhinderten weitere Angriffe auf die Stadt. Die beiden versicherten den Amerikanern, dass es keinen Widerstand in Zerbst geben werde. Geraubte Kindheit

Vielen Kindern wurde durch den Krieg das bevorstehende Leben geraubt. Nicht wenige schleppten sich von nun an, mit Ängsten und Trauer gebrandmarkt, durch ihr weiteres Leben, wie auch die siebenjährige Marieluise aus Dessau, die kurz vor der Bombardierung der Stadt nach Zerbst gekommen war. Sie erlebte schon den Bombenangriff auf Dessau in einem Bunker der Südvorstadt. Nach Ende der Bombardierung flüchtete sie mit ihren Eltern durch das brennende Dessau zum häuslichen Anwesen, das völlig zerstört war.

Da stand zur rechten Zeit der Großvater aus Zerbst in der Tür und nahm die Ausgebombten mit. Hier war Anfang März noch alles geordnet. Es musste allerdings erst eine Wohnungseinweisung beim Rat der Stadt erworben werden. Doch was niemand wissen konnte: Marieluise muss auch die Zerstörung ihrer neuen Heimatstadt am 16. April 1945 von einem Schrankenwärterhaus in Jütrichau erleben. Ein zweites Mal sieht die Siebenjährige die grässliche Fratze des Krieges.

Die Schleibank mit Blick auf die Kirche St. Nicolai. Foto: Sammlung Helmut Hehne

Beim Wiederaufbau traten die Schrecken des Krieges allmählich in den Hintergrund. Viele Menschen haben jedoch ihr Kriegstraumata an die Kinder und Enkel weitergegeben. Kleine Begebenheiten in den folgenden Jahren sind heute oft vergessen. So war es im Sommer 1946 notwendig, sich einer Impfung gegen Typhus und Paratyphus zu unterziehen. An der heutigen Ecke Jeversche Straße/Karl-Marx-Straße standen Ärzte und Schwestern mit Kanülen und Serum. Die ganze Straße stank nach Äther. Auch Marieluise musste sich impfen lassen. Eine Verordnung sah vor, dass man ohne Impfung keine Lebensmittelkarten erhielt.

Und Marieluise? Sie hat überlebt, musste mit den schrecklichen Erlebnissen jener Tage weiterleben und gründete später eine Familie.

 


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