ZerbstAktuell
In diesen Tagen hört und liest man sie wieder, die Berichte von Augenzeugen jener Tage im April 1945 in Zerbst. Nicht wenige berichten vom Selbsterlebten, denn die Kinder des April 1945 sind heute zwar 80 Jahre und älter, aber das Erlebte verliert sich nicht.
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Auch 72 Jahre danach sind die Erinnerungen wach und wir tun gut dran, diese Erinnerungen als unsere eigene Geschichte und Verpflichtung für die Zukunft zu begreifen.
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Da es in meiner Familie versäumt wurde, die Berichte der Groß- und Urgroßeltern zu Papier zu bringen, griff ich in Vorbereitung auf den heutigen Tag auf das Buch „Zerbst im April 1945“ zurück.
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Ein Verdienst Claus Blumstengels, mit diesem Buch die Geschehnisse jener Tage für die Zukunft zu bewahren.
Mancher wird darin der eigenen Familiengeschichte begegnen. Deshalb, aus Rücksicht, lassen Sie mich einige ehr allgemeinere Passagen zitieren:
„Als die letzten Bomber etwa um die 11. Vormittagsstunde abgeflogen waren, fragte man sich allgemein: Was wird nun werden? Kommen sie wieder? Bleiben oder flüchten? Hat Retten und Löschen überhaupt noch einen Sinn?
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Man griff zu, löschte, half hier und dort. Brände, Feuer wohin man blickte! Die Gefahren waren keineswegs geringer. Würde man das, was an Wohnraum noch stehengeblieben war, erhalten können? Rauch, Qualm, Funkenflug, einstürzende glühende Holzbalken! Einsturzgefahr. Verkohlte Leichen und Tote lagen noch auf den Straßen, Erstickte noch in den Kellern und unter den eingestürzten Trümmern.“
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So ein erstes Fazit unmittelbar nach dem Angriff, aber es sollte sich zeigen, dass dies noch nicht das Ende des Grauens war. Die sich ausbreitende Feuersbrunst vernichtete Gebäude und Straßenzüge, die den Bombenangriff zunächst überstanden.
Weiter ist zu lesen:
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„Erschütternd sind die einzelnen Berichte über die ersten Eindrücke der Heimkehrenden. Einmütig ist die allgemeine, tiefe Enttäuschung und die Verbitterung über das Ausmaß der Zerstörung der Stadt sowie über die schmerzlichen eigenen Verluste von Heim, Hab und Gut. Manche Brandstätten waren auch nach 14 Tagen noch immer nicht zu betreten. Bis in alle Zukunft hinein wird man aber neben den menschlichen Todesopfern von über einem halben Tausend und neben dem Verlust an Hab und Gut schmerzlich den Untergang unseres alten Zerbst beklagen. …Während die außerhalb gelegenen Kasernen und der Fliegerhorst so gut wie unversehrt blieben, wurde allein die historisch wertvolle Innenstadt, in der sich keinerlei militärische Ziele befanden, … bombardiert und bis auf wenige Reste dem Erdboden gleichgemacht.“ Zitat Ende
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Die Namen Dr. Hermann Wille und Heinrich Gelzenleuchter werden als diejenigen in unserem Gedächtnis bleiben, die als Parlamentäre im Auftrag des Oberbürgermeisters die totale Vernichtung der Stadt verhinderten und die Übergabe an die Amerikaner ermöglichten. Aber auch Karl Pätzold, von den Amerikanern noch vor dem Angriff zu Verhandlungen nach Zerbst geschickt und am Starrsinn der Nazis gescheitert, soll nicht vergessen sein.
Alljährlich rufen wir uns diese Fakten ins Gedächtnis.
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Wir tun das zum einen aus Respekt vor den Überlebenden, zum Gedenken an die Opfer, zum anderen aber auch im Wissen um die Verantwortung ins Heute. Teilweise wird uns die Erinnerung an den 16. April 1945 Tag für Tag aufgezwungen, weil das Stadtbild sie "aufzwingt". Besonders das Schloss, St. Bartholomäi oder St. Nicolai erinnern uns als steinerne Zeitzeugen.
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Wenn wir uns die Opfer und Verluste jenes Tages im April 45 in Erinnerung rufen, dann dürfen wir das nicht ohne das Wissen um Ursache und Wirkung tun.
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Es war erstens der Stadtkommandant der trotz Übergabeaufforderung die Stadt nicht frei gab. Es war aber vor allem Hitler-Deutschland, das zunächst Europa und später die ganze Welt in einen bis dahin ungeahnten Krieg riss. Es war Hitler-Deutschland, das anfing, den Bombenterror in europäische Städte zu tragen. Es war die Nazi-Doktrin der verbrannten Erde, die unsere Stadt zum Ziel eines militärisch unsinnigen Bombardements machte.
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Dies muss auch deshalb in Erinnerung gerufen werden, weil Gedenktage wie dieser andernorts regelmäßig von NPD und Gleichgesinnten missbraucht werden, um daraus einseitige Opferveranstaltungen und Heldenverklärung zu konstruieren.
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Wenn wir nach Helden suchen, dann werden wir sie vor allem unter den Bürgerinnen und Bürgern unserer Stadt finden. Jene, die trotz aller Verluste, menschlicher wie auch wirtschaftlicher, den Wiederaufbau unserer Stadt in die Hand genommen haben. Jene Frauen, die noch am 15. April versuchten, die Sperre am Frauentor einzureißen.
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Dass der Wiederaufbau einer ganzen Stadt eine Aufgabe für mehr als nur eine Generation ist, haben wir inzwischen wohl alle begriffen. Die Rückschau auf das was war, ist wichtig, aber sie ist nicht alles. Wenn wir immer nur zurück blicken und feststellen, wie schön früher alles war und dabei ausblenden, unter welchen Bedingungen der Wiederaufbau erfolgte, tun wir denen Unrecht, die in den vergangenen 72 Jahren diese Stadt, unsere Stadt wieder entstehen ließen und auch künftig weiter entwickeln.
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Das Erinnern an den 16. April 1945 hat aber noch eine andere Komponente.
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Dieser Tag steht für ein ganz konkretes Erleben von Krieg und Terror und seinen Folgen. Wie gehen wir damit um? Die Bundeswehr ist in einer Vielzahl von Auslandseinsätzen eingebunden. Das Wort Krieg bestimmt den täglichen Nachrichtenüberblick. Krieg ist ein Thema, das uns nicht nur an so einem Gedenktag, sondern tagtäglich und ganz aktuell vielfach begegnet. Menschenrechte werden dabei meist nur in solchen Fällen problematisiert, wo deren Verletzung anzuprangern keine wirtschaftlichen Interessen stört oder es politisch opportun ist.
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Die Massaker in Syrien sind unerträglich und müssen auch so benannt werden. Das Aufheizen der Situation um Nordkorea ist für uns alle aber genauso gefährlich, wie der beinahe tägliche Terror in Europa oder die Entwicklungen in der Türkei, bei der es sich immerhin um einen Bündnispartner der NATO, also auch Deutschlands handelt.
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Die meisten der heute lebenden Zerbsterinnen und Zerbster haben das Glück, in einer Zeit geboren und aufgewachsen zu sein, die frei von Krieg und Vertreibung war. Die aktuellen Ereignisse müssen uns jedoch klar machen, dass es ein fragiler werdendes Glück ist.
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Aus all diesen Gründen ist es wichtig, jedes Jahr an den 16. April 1945 und seine Ursachen zu denken.
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Wir schulden es den Opfern jenes furchtbaren Tages in dieser Stadt, wir schulden es den Opern des Naziregimes und wir schulden es den kommenden Generationen.
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Andreas Dittmann
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